Lasst uns eines klarstellen: Ja, es ist genauso furchterregend, wie man es vermuten würde. Man sagt schließlich nicht umsonst „Pass der toten Frau“. Zugegeben, der Name bezieht sich auf die Form des Passes (die an eine liegende Frau erinnert) und nicht auf tatsächliche Todesfälle, aber trotzdem: Ein gewisser Horror schwingt darin mit. Und als ich mich dann hinaufquäle, immer nur an den nächsten erreichbaren Fels oder Busch denkend, und als die Schneegrenze stetig näher rückt und die Sonne immer stärker herunterbrennt, da schaue ich zu ihr nach oben und verfluche diese liegende Frau, und mit ihr die Inkas, die ihr diesen Namen gaben.
Wahrscheinlich fragst du dich jetzt, warum ich mich überhaupt zu der wahnwitzigen Überquerung dieses Passes aufgemacht habe. Die Entscheidung dazu traf ich, als mich in meinen mittleren Dreißigern – so wie die meisten Menschen – das dringende Bedürfnis überfiel, meinem Leben eine neue Richtung zu geben. Innerhalb weniger Wochen lief ich meinen ersten Halbmarathon, beendete eine Beziehung und beschloss, den Inka-Trail abzuwandern. Das Rennen, weil…naja, wieso nicht? Den Kerl, weil…ach, lassen wir das. Und den Inka-Pfad, weil ich davon seit der ersten Erwähnung von Machu Picchu im Spanischunterricht geträumt hatte. Träume sind eine gefährliche Sache! Lass sie fallen, und sie jagen dich bis in alle Ewigkeit. Verfolge sie, und du endest in 4200 Metern Höhe und fragst dich, ob dein träumendes Selbst eigentlich ein Masochist ist.
Ich hatte mich für die „Sacred Land of the Incas“-Tour von Intrepid entschieden und war eine Woche vor meinem Abenteuer am „Pass der toten Frau“ in Peru angekommen. Obwohl ich Wanderstiefel und genügend Proteinriegel im Rucksack hatte, um eine ganze Herde Lamas durchzufüttern, erschien mir zunächst alles surreal. „Eines Tages“ hatte sich plötzlich in nächste Woche verwandelt. Kleine Info am Rande: Die Proteinriegel waren vollkommen unnötig, denn die Träger versorgen dich mit so viel Nahrung, dass dein Magen kaum Zeit hat, einmal hungrig zu grummeln, bevor die nächste Futterpause erfolgt.
Dass ich mir wenige Tage vor der Ankunft in Ollantaytambo, dem Startpunkt des Trails, im Amazonasdschungel einen Magen-Darm-Virus zugezogen habe, war natürlich nicht unbedingt hilfreich. Drei Tage lang wurde ich in der klebrig-schwülen Hitze vom Fieber geschüttelt, während meine Reisegefährten sich bei der Suche nach Anakondas und Taranteln vergnügten. Die Anden (und die Aussicht, diese zu durchwandern) erschienen mir in diesem Moment Lichtjahre entfernt. An dem Morgen, an dem wir zum Einstieg des Trails aufbrachen, war mir noch immer flau im Magen – allerdings nicht nur vor Übelkeit, sondern auch wegen meiner Nerven. Die Realität hatte mich voll erwischt.
Glücklicherweise meinte es der Trail am ersten Tag noch gut mit mir, denn er führte durch die peruanischen Ebenen. In den Anden kommen diese sanften Hügel dem, was man als flach bezeichnen würde, am nächsten. Sie sind allerdings nur die Vorboten von dem, was später folgt. Bald schon werden die Hügel steiler, die Felstritte höher und die Luft dünner. Jetzt beginnst du zu begreifen, wie die Dinge auf dem Inka-Pfad laufen, etwa wenn die Träger mit ihren riesigen Rucksäcken mühelos vom Ende des Zuges an dir vorbei nach vorne spazieren und kurz darauf wieder zurück. Bei ihrer ständigen Pendelei benutzten sie oftmals noch nicht einmal die Stufen. An einem solchen Tag wird dir klar, dass der Stairmaster im Fitnessstudio nichts mit den Inka-Treppen gemein hat.
Am ersten Tag merkst du auch bald, was es bedeutet, ein Inka-Trekker zu sein. Die Permits werden täglich an 200 Wanderer (und 300 Träger) vergeben, weswegen man selbst in Momenten größter Müdigkeit und Erschöpfung auf Menschen trifft, die einem einen gut gemeinten Schubs geben. Manchmal hat man auch selbst die Gelegenheit, als Motivator aufzutreten.
Als ich am zweiten Tag die letzten 200 Meter zum „Pass der toten Frau“ hinaufstolpere, höre ich plötzlich von oben die Anfeuerungsrufe der anderen Wanderer. Mir fehlen nur noch wenige Schritte, als sich ein Trekker aus der Gruppe löst und mir namentlich gratuliert. Und das ist die nächste Sache, die man auf dem Trail schnell merkt: Man sieht und spricht immer wieder mit denselben Fremden, bis sie irgendwann keine Fremden mehr sind. Die schmerzenden Knie und die Höhenangst schweißen alle zusammen, und manchmal werden sogar kleine Feste gefeiert. Am zweiten Abend genießen wir einen Bananenkuchen, den die Träger mit nichts als einem Campingkocher für den Hochzeitstag zweier Reisegefährten zubereiten.
Im Laufe der Tage kämpfst du mit steilen Anstiegen und noch steileren Abgründen, mit verlorenen Zehennägeln und aufgeplatzten Blasen, und mit Sicherheit wirst du dich mindestens einmal selbst dafür verteufeln, dass du nicht einfach den Zug genommen hast. Schließlich opfern die meisten Besucher von Machu Picchu keine vier Tage, um hinzugelangen. Warum also sollte man sich diese Wanderung antun?
Ganz einfach. Wie bei fast jeder Reise ist der Lohn der Mühe nicht die Ankunft, sondern der Weg selbst. Machu Picchu ist die leuchtende Ikone, doch schon entlang des Pfades warten zahllose versteckte Schätze, und anders als das große Finale kann man sie ausschließlich zu Fuß entdecken. Natürlich begehen den Pfad täglich Hunderte von Abenteurern, aber wenn man hinter einer Kurve in der Ferne die glorreichen Ruinen von Sayacmarca an der Kante eines Kliffs thronen sieht, oder unten in der Tiefe Qonchamarka zwischen dem dichten Blätterdach des Dschungels erscheint, dann darf man sich getrost einen Moment lang wie der nächste Hiram Bingham fühlen.
An unserem letzten Morgen erreichen wir das Sonnentor früh genug, um die Berge noch in Nebelschwaden gehüllt zu bewundern. Übrigens, erinnerst du dich an all diese Bilder von Menschen, die vor Machu Picchu stehen? Diese wurden nicht beim Sonnentor aufgenommen, ganz egal, was das Tinderprofil sagt. Das Sonnentor liegt wesentlich höher und eröffnet eine Aussicht, die weit über die Ruinen hinausreicht. Von hier erhascht man einen ersten flüchtigen Blick auf Machu Picchu, genießt aber außerdem das Panorama, das die umgebenden Berge und das Tal, das nach Aguas Calientes hinunterführt, bieten. Man kann sogar die Tourbusse bei ihrer Fahrt in die Berge beobachten und sich dabei selbst gratulieren, weil man den harten Weg gewählt und überstanden hat.
Nach vier Tagen auf dem Inka-Pfad sitze ich hier, meine wunden Füße baumeln über eine Felskante und ich betrachte den auf- und abziehenden Nebel. Dann heule ich los. Verdammt, ich weiß, dass es nach einem Klischee klingt, aber es ist die Wahrheit. Ich sitze hier mit dem Rücken zu den Menschen und Tränen kullern meine schmutzigen Wangen hinab, weil der Träumer in mir das einfach so richtig verdient hat.
Worte und Bilder im Original von Tammy Burns, übersetzt von Kai Wieland.
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