Waisenhaus-Tourismus ist das Ergebnis guten Willens, der sich in der Realität ins Gegenteil umgekehrt hat. Reisende, die im Ausland ein Kinderheim besuchen oder dort Freiwilligenarbeit leisten, tun dies in der Regel mit den besten Absichten. Leider unterstützen sie mit ihrem Einsatz unter Umständen ein ausbeuterisches Geschäftsmodell, bei dem Kinder von ihren Familien getrennt und in einigen Fällen auch misshandelt werden.
Es ist schwierig, diese Botschaft so zu vermitteln, dass es nicht zu Missverständnissen kommt. Wir wollen damit nämlich keinesfalls sagen: „Helft nicht“. Viel mehr versuchen wir, zu der richtigen Art von Hilfe anzuregen. Falls du zu den Menschen gehörst, die bereits Waisenhäuser besucht und dort gearbeitet haben, bist du übrigens in guter Gesellschaft. Bei Intrepid haben wir derartige Touren sogar schon selbst angeboten. Ein Umdenken beim „Voluntourismus“ bedeutet auch nicht, dass ehemalige Praktiken verdammt werden sollen. Stattdessen wollen wir bessere Programme für die Zukunft gestalten. Folge unserer Kampagne #StopOrphanTrips für weitere Informationen und unterzeichne die Petition gegen Waisenhaus-Tourismus.
Hier sind 6 Gründe, warum du dich nicht am Waisenhaus-Tourismus beteiligen solltest:
1. Waisenhäuser sind oft nicht das, was du denkst
Studien von UNICEF besagen, dass bis zu 75% der Kinder in kambodschanischen und nepalesischen Waisenhäusern gar keine Waisen sind. Stattdessen stammen sie aus armen Familienverhältnissen in ländlichen Regionen und werden von Schleppern in derartige Einrichtungen verfrachtet – meist, weil ihre Eltern sich dadurch eine bessere Zukunft für die Kinder erhoffen. Manchmal werden sie auch tageweise angeheuert, um das Bild großer Armut zu vermitteln und so möglichst hohe Spenden von großzügigen Besuchern abzuzapfen. Nicht alle Waisenhäuser arbeiten auf diese Weise, aber wenn die Studien stimmen, ist es immerhin die Mehrheit. Für Touristen ist es leider schwierig festzustellen, ob es sich um eine seriöse Einrichtung oder um Abzocke handelt.
2. Kinder gehören zu ihrer Familie
UNICEF arbeitet eng mit den lokalen Regierungen zusammen, um die Anzahl der Waisenhäuser in Afrika und Asien zu reduzieren (so paradox das zunächst klingen mag), und zwar indem möglichst viele Kinder wieder mit ihren Familien vereint oder in familiär ausgerichteten Gemeinschaften untergebracht werden. Es steht vollkommen außer Zweifel, dass sich Kinder zuhause einfach besser entwickeln. Organisationen wie thinkchildsafe.org geben zu bedenken, dass sich bei Kleinkindern, die missbraucht werden und später keine vernünftige Bildung erhalten, das Gehirn oft nicht vollständig entwickelt. Schäden dieser Art sind sehr ernst zu nehmen und meist nicht mehr umkehrbar. Die Mehrheit der Reisenden würde wohl auch zustimmen, dass ein Kind zu seinen Eltern gehört (natürlich nur, sofern es von diesen nicht schlecht behandelt und missbraucht wird). Wenn Eltern also nicht in der Lage sind, sich um ihre Kinder zu kümmern, dann sollten wir Organisationen und Programme fördern, die ihnen die dafür notwendigen Fähigkeiten und Ressourcen vermitteln. Waisenhäuser erfüllen im besten Fall den Zweck eines Pflasters. Im schlechtesten Fall allerdings richten sie ernsthaften Schaden an.
3. Freiwillige Helfer sind nicht lange genug vor Ort
In den meisten Fällen sprechen Reisende, die freiwillig in Waisenhäusern aushelfen, nicht die Landessprache, haben keinerlei Ausbildung für diese Tätigkeit und bleiben zudem nicht sehr lange an Ort und Stelle. Alle diese Faktoren wirken sich auf die Kinder destabilisierend aus. Backpacker übernehmen im Grunde mehrere Rollen, die eigentlich von qualifizierten Erziehern, Lehrern und Sozialarbeitern ausgefüllt werden sollten. Natürlich verfolgen die Helfer dabei keine schlechten Absichten, ganz im Gegenteil: Es ist ihr Wunsch, etwas Gutes zu leisten, der sie den Blick auf das große Ganze verlieren lässt. Zuhause würden wir Kinder auch nicht in die Obhut von unerfahrenen und unqualifizierten Erwachsenen geben, schon gar nicht, wenn diese wöchentlich oder monatlich wechseln. Wenn Kinder schon in einer institutionellen Einrichtung untergebracht werden müssen, dann verdienen sie zumindest professionelle Pflege und Aufmerksamkeit von Menschen aus der Region, die dauerhaft vor Ort sind und die Situation der Kinder kennen und verstehen.
4. Der Waisenhaus-Tourismus birgt äußerst reale Gefahren für die Kinder
Touristische Angebote in Waisenhäusern werden nicht gut reguliert, und Freiwillige müssen nur sehr wenige Hürden überwinden, um in Kontakt mit den Kindern zu kommen. Genau das setzt die Kids einer hohen Gefahr aus. Organisationen wie Next Generation Nepal verweisen gar auf eine konkrete Verbindung zwischen dem Waisenhaus-Tourismus und Kinderhandel. UNICEF räumt ebenfalls ein, dass sich in den vergangenen zwanzig Jahren eine erdrückende Beweislast angehäuft hat, nach welcher Kinder in Waisenhäusern sehr viel eher Gefahr laufen, langfristig systematischen und institutionell verankerten Missbrauch zu erfahren. Touristen haben nur eine einzige Möglichkeit, diese Praxis zu stoppen: Indem sie sich nicht länger zur Freiwilligenarbeit in Waisenhäusern aufmachen und stattdessen ihr Geld in Organisationen stecken, die nachweislich zur Verbesserung der Situation beitragen.
Mehr zum Thema: Warum wir den Waisenhaus-Tourismus überdenken müssen
5. Touristen sind der Treibstoff für den Waisenhaus-Tourismus
Durch den Besuch und durch die freiwillige Mithilfe in Waisenhäusern sorgen Touristen letzten Endes dafür, dass diese Einrichtungen kommerzialisiert werden. Wenn die Nachfrage an derartigen Angeboten jedoch einbricht, dann gibt es auch keinen Anreiz mehr für die skrupellosen Geschäftemacher. Next Generation Nepal hat festgestellt, dass vor allem Kinder aus den armen ländlichen Regionen Nepals in die Waisenhäuser verschleppt werden, und zwar deshalb, weil sie in besonderem Maße die Sympathien und das Mitleid westlicher Touristen wecken. Jeder Reisende hat es selbst in der Hand, diesen Teufelskreis ein Stück weit zu durchbrechen. Mit Spenden an NROs und Hilfsorganisationen, die sich als zuverlässig und seriös im Kampf gegen den Waisenhaus-Tourismus erwiesen haben (etwa jene, die wir mit der Intrepid Foundation unterstützen), kannst du dir sicher sein, dass dein Geld zur Verbesserung der Lebensbedingungen für die Menschen und vor allem für die Kinder im jeweiligen Land beiträgt.
6. Würdest du es zuhause auch tun?
Jeder Traveller sollte sich vor Antritt eines Freiwilligendienstes im Ausland fragen: Wenn ich es zuhause nicht mache, warum sollte ich es dort tun? Würde ich auch in meiner Heimatstadt freiwillig in einem Waisenhaus arbeiten? Wenn die Antwort darauf nein lautet, dann musst du darüber nachdenken, was für ein solches Engagement in Thailand, Kambodscha oder Tansania spricht. Kinder sollten keine Touristenattraktion sein. Selbst wenn es Touristen das Gefühl vermittelt, etwas Gutes zu tun, können sie das Notwendige im Grunde gar nicht leisten. Sie kennen die Kinder und ihre Geschichte nicht, sprechen nicht ihre Sprache und sind nicht für diese Arbeit ausgebildet. Es ist daher besser, lokale Projekte und Organisationen finanziell zu unterstützen und so die Armut zu bekämpfen, die ursächlich für viele Probleme ist, die den Waisenhaus-Tourismus begünstigen.
Wenn du mehr über den Waisenhaus-Tourismus erfahren möchtest, empfehlen wir die ausgezeichnete UNICEF-Studie über Kambodscha. Für weitere Informationen zu den verschiedenen Hilfsprojekten kannst du die Seite der Intrepid Foundation besuchen und dort natürlich auch spenden.
Im Original von James Shackell, übersetzt von Annika Ziehen.